Führt die Pandemie zu einer Retraditionalisierung?

Die COVID Pandemie hat uns alle getroffen aber laut einer aktuellen Forschungsstudie sind die Auswirkungen auf Frauen stärker gewesen als auf Männer. Die Studie spricht sogar von einer entsetzlichen Retraditionalisierung. Ein treffender Auszug:

“Mütter, die sich nach der Geburt ihrer Kinder in meist jahrzehntelanger Teilzeit wieder ihrer Erwerbsarbeit widmen, ziehen sich aus dem Arbeitsmarkt zurück. Über 20 Prozent von ihnen reduzieren ihre Arbeitszeit, die ohnehin schon kürzer als die der Männer ist. Gleichzeitig erhöht sich die Zeit, die die Mütter für die Betreuung der Kinder aufwenden, für die Hausarbeit oder die Pflege von Familienangehörigen.”

Eine Kollegin schickte mir folgende Geschichte:

"Als der Lockdown verkündet wurde, freuten sich einige meiner Kollegen auf ‘eine ruhige Zeit’ und darauf, all die Paper und Op-eds zu schreiben, die sie während eines arbeitsreichen Arbeitsalltags zurückgestellt hatten.

Nun, es könnte helfen zu erklären, dass sie alle Männer waren.

COVID-19 hat die Ungleichheit der Geschlechter innerhalb der akademischen Welt und die Unterschiede in der Forschungsproduktivität wirklich hervorgehoben. In den letzten zwei Monaten musste ich in drei Schichten arbeiten, die sich auf Arbeit-Arbeit, Hausarbeit und Kinderbetreuung verteilten. Arbeit-Arbeit bedeutet, dass ich versuche, mich über Wasser zu halten; ich habe keinen einzigen Absatz einer neuen Arbeit geschrieben, der Sinn machen würde. Anfangs fühlte ich mich schuldig, aber dann las ich diesen ausgezeichneten Artikel von Alessandra Minello, der in Nature veröffentlicht wurde: “Akademische Arbeit - bei der der Karrierefortschritt auf der Anzahl und Qualität der wissenschaftlichen Publikationen einer Person und ihrer Fähigkeit beruht, Mittel für Forschungsprojekte zu erhalten - ist grundsätzlich unvereinbar mit der Betreuung von Kindern.
Ich schreibe dies während ich “spiel-basierte Lernaktivitäten” über Phonik für meinen fünfjährigen Sohn vobereite und meine Tochter stille. Bin ich verbittert? Nein, darüber bin ich hinweg - ich bin erschöpft.

Führende wissenschaftliche Fachzeitschriften berichten, dass “die Zahl der von Frauen eingereichten Artikel dramatisch zurückgegangen ist. Nicht so von Männern.” Es bedurfte einer Pandemie, um die anhaltende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die “Mutterschaftsgrenze”, die viele von uns in ihrem beruflichen Werdegang erleben, hervorzuheben.

Einige mögen fragen, was mein Partner in all dem tut. Immer mit der Ruhe - er leistet seinen Beitrag, aber da seine Arbeit “system-relevant” ist, kann er nicht so viel Zeit zu Hause verbringen wie ich.
Trotzdem werde ich überleben. Die jüngsten unverschämten Aufrufe von der anderen Seite des Atlantiks, die Coronavirus-Beschränkungen zu missachten, veranlassten mich, meinen Kindern die wahre Geschichte von Rosa Parks und ihrer Widerstandsfähigkeit zu erzählen. Rosa ist für uns alle im Bus geblieben. Wir werden noch etwas länger zu Hause bleiben.”

Spiegelt dies deine Situation wider? Hat COVID diesen Zustand verursacht oder nur verschärft? Könnte COVID auch ein Katalysator für positive Veränderungen sein?

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Ich kann das sehr nachvollziehen.

Ich finde zwei Aspekte sehr interessant: Auf der einen Seite ist es ein Thema, wie Familien sich organisieren und wie in so einer Krise alte Rollenbilder und Denkmuster fast reflexartig wieder hochkommen. Du beschreibst es ja als “Retraditionalisierung” und ich frage mich, ob wir denn die ‘traditionellen Rollenbilder’ vielleicht nur oberflächlich verändert haben? Steckt in den Köpfen noch viel von der Kultur der toxischen Maskulinität und haben wir zu wenig an den Strukturen des Patriarchats gearbeitet?

Meine Partnerin und ich versuchen bewusst uns alle Aufgaben zu teilen, auch den Mental Load, aber dies klappt nicht immer, und ich bin mir klar darüber, dass wahrscheinlich meine Partnerin unbewusst doch ein paar mehr Dinge erledigt als ich.

Auf der anderen Seite glaube ich dass Menschen ohne und Menschen mit (vor allem jungen) Kindern den Lockdown sehr unterschiedlich wahrgenommen haben.

Wir haben eine 2-jährige Tochter, und da wir beide arbeiten, waren vor allem die Tage ohne Kinderbetreuung eine riesige Herausforderung. Auch ich habe gesehen, wie sich für kinderlose Kollegen oder Freunde andere Türen aufgingen, denn sie hatten Zeit um nun an Meetings und Konferenzen weltweit teilzunehmen, ihre Leseliste abzuarbeiten, oder wie hier beschrieben, Arbeiten zu veröffentlichen.

Ich sass in ein paar dieser Meetings und Calls, aber musste am Ende mich auf das Wesentliche beschränken: Die Familie, und die (bezahlte) Arbeit. Die vielen interessanten, potentiell zur Profilierung geeigneten, aber zunächst einmal brotlosen Projekte, kann ich mir zeitlich und finanziell kaum leisten. Und meine Leseliste ist definitiv länger geworden, nicht kürzer.

Ich glaube Covid hat die Zustände nur verschärft und stressgetestet. Und sicher, ich glaube dass selbst schwerste Krisen als Katalysator für positive Veränderungen wirken können. Ich habe einen großen Lebensschritt gemacht, nachdem der Tod meines besten Freundes mit gezeigt hat, wie kurz das Leben sein kann. Ich denke Corona kann uns dazu bringen, über die Art wie wir zusammen leben und zusammen wirtschaften, nachzudenken. Und der Aktivist in mir denkt sich auch, es könnte kaum bessere Fragen stellen, vor dem Hintergrund der ökologischen Krisen vor denen wir stehen.

Und vielleicht - das fände ich ehrlich gesagt sehr spannend, kann dies zu einer Diskussion zu Gleichberechtigung führen, die dann zu wirklichen Veränderungen führt?

Und wenn ja, was wären spannende Fragen für so eine Diskussion?

Ich glaube diese Pandemie verstärkt sämtliche Ungleichheiten, die wir gerade schon in unserer Gesellschaft haben, und das bedeutet dann halt auch, dass Ungleichheiten, die auf Geschlechtern basieren, sich auch verschärfen. Die Wissenschaft war schon vor der Pandemie ungleich.
Ich habe an einer deutschen Universität meinen Bachelor in Politikwissenschaften gemacht. In Deutschland ist der Anteil weiblicher Studierender in der Politikwissenschaft über dem der männlichen. Je höher man geht in der Hierarchie, desto mehr kehrt sich das Verhältnis dann um. Es gab eine einzige Professorin und im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen war sie kinderlos. Natürlich kenne ich die Lebensumstände der einzelnen Lehr- und Forschungskräfte nicht, aber für uns als Studierende hatte das schon eine gewisse Botschaft. Wenn sich unser IB-Prof dann noch bei uns beschwerte, dass er wegen seiner ganzen super wichtigen Dienstreisen keine Zeit mit seinen Kindern hat, hat sich bei mir das Mitleid schon etwas in Grenzen gehalten - anscheinend hatte er ja eine Frau zuhause, die ihm den Rücken freigehalten hat.

Ich finde die Wissenschaft (auch in den Sozialwissenschaften) im Groben und Ganzen nicht sehr Frauenfreundlich.
Vor einer Weile hatte ich einen Emailaustausch mit einem Editor eines deutschsprachigen Journals. Das Board ist fast ausschließlich mit Männern und (mit Verlaub) Kartoffeldeutschen Namen besetzt. Ich habe dem Editor eine Email geschrieben, mit Daten hinterlegt, dass ich es schade finde, dass das Board die deutsche Politikwissenschaft nicht wirklich abbildet, woraufhin mir a) gesagt wurde, dass das Verhältnis gar nicht so schlecht sei, wie ich es geschildert hätte (es würde nämlich demnächst noch eine weitere Frau dazu kommen (was am Verhältnis auch mit mathematischen Grundkenntnissen nicht wirklich viel ändert) und b) ich solle doch gerne selbst mal was einreichen. Ich verstehe Punkt b), aber gleichzeitig nervt es mich auch, dass ich als Frau erst mal was publizieren soll, bevor ich mitreden darf. Als Frau in der Wissenschaft muss man super tough sein, damit man überhaupt mit am Tisch sitzen darf. Was mich so stört ist, dass die Signalwirkung solcher Boards und Panels unterschätzt wird- und zwar von genau den alten weißen kartoffeldeutschen Herren, die an den Hebeln sitzen. Wenn die Wissenschaft nur ein Ort ist für Menschen (und insbesondere Frauen, aber man könnte hier auch sämtliche andere Minderheiten einfügen), die dauernd die Zähne zusammenbeißen, tough sein und extra hart arbeiten müssen, geht der Wissenschaft glaube ich auf die Dauer viel verloren.
Es ist eben nicht so, dass nur Können zählt und wir in einer reinen Meritokratie leben würden.

Von Sexismus am Arbeitsplatz oder den Auswirkungen von befristeten Arbeitsverträgen könnte man jetzt auch noch anfangen, aber ich lass das mal lieber, der Beitrag ist eh schon zu lang geworden.
Ich will ganz bestimmt nicht sagen, dass es alle Männer in der Wissenschaft leicht haben (viele Probleme treffen sie wie ihre weiblichen Kolleginnen) und ich habe auch viel Unterstützung durch männliche Dozenten erlebt, aber das ändert nichts daran, dass das System Wissenschaft patriarchalisch ist.

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Hi @Schuetzin94,
danke für Deinen Beitrag und willkommen hier im Edgeryders Forum!

Du zeichnest ein sehr gut differenziertes Bild, das ist ein guter Punkt dass die Situation natürlich auch schon vor der Pandemie ungleich war - gerade auf den höheren Hierarchiestufen. Leider sind auch meine Erfahrungen dazu ähnlich zu Deinen: In der Wirtschaft ist es oft sogar noch schlimmer. Hast Du denn das Interview mit Birgit schon lesen können?

Hast Du denn praktische Schritte im Kopf, die wir als Gesellschaft umsetzen können, um den patriarchalischen Charakter (zumindest im System Wissenschaft, aber auch generell) zu beenden oder zumindest schneller und stärker zu verringern?

Hallo! Eure Diskussion hat ein super Timing - gerade am 11. Feb. war ja Women in Science Day! Dieser Artikel ist gestern auf Twitter viral gegangen - er fasst sehr gut einige der bereits genannten Punkte zusammen und unterlegt sie mit Zahlen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die “Glasdecke” oder “enger werdende Leiter”, die Frauen im Wissenschaftsbetrieb antreffen, stark mit kulturell verankerter Frauenfeindlichkeit bzw. -skepsis zusammenhängt, die nicht nur Männer, sondern auch Frauen an den Tag legen. Damit beschäftigt sich auch der oben verlinkte Artikel: Student:innen trauen männlichen Dozenten mehr zu als weiblichen, Wissenschaftler zitieren sich selbst mehr als Wissenschaftlerinnen, usw. Wir müssen daher die antrainierte Frauenfeindlichkeit bzw. -skepsis in uns selbst anerkennen und uns “abtrainieren”. (Dasselbe gilt natürlich für sozial erlernten Rassismus, Homophobie, usw.).

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Ja, ich sehe das auch als kulturell verankert und ja, das ist absolut unabhängig von der eigenen Identität - von Rassismus betroffen zu sein macht mich nicht automatisch zum Anti-Rassisten.

Ich denke auch, echter Wandel entspringt einer Kombination von innerlichen und äusserlichen Veränderungen.