Mit der gestrigen Verkündung der Lockdownverschärfungen in Deutschland werden im November gastronomische Betriebe sowie Kunst- und Kulturebetriebe schliessen müssen - was viele wohl vor existenziellen Herausforderungen stellen wird.
Hier möchte ich ins Thema “Wellbeing” einsteigen, mit einem Gespräch zwischen einer Freundin und der Gründerin der alternativen Kunst-Community Ponderosa Stolzenhagen. Stephanie Maher lebt seit 1996 in Deutschland und erzählt in diesem Interview Sylvie wie sie mit der aktuellen Situation umgeht und was ihr durch den Kopf geht:
Ponderosa Stolzenhagen
Sylvie: Hi Stephanie, kannst Du kurz erzählen wer ihr seid uns was ihr macht?
Stephanie: Ponderosa ist ein Kunstzentrum, eine Community und ein Ort zum Versammeln und Austauschen. Wir befindet uns im Dorf Stolzenhagen, 1200 Einwohnern und etwa eine Zugstunde von Berlin entfernt, nahe der deutsch-polnischen Grenze.
Unser Team von Künstlern arbeitet daran, die Kluft zwischen Jung und Alt und die Grenzen zwischen Menschen und Nationen zu überbrücken - sei es in den umliegenden Dörfern Brandenburgs, zwischen Polen und Deutschland oder in der internationalen Gemeinschaft. Dabei steht im Vordergrund, einen Ort zu schaffen, der außergewöhnlich und einladend ist, während gleichzeitig der gegenseitige Erfahrungsaustausch und gemeinsames Wachstum gefördert werden sollen.
Sylvie: Wie kam es dazu, dass du hier eine Community gestartet hast?
Stephanie: Eine lange Zeit über hatte ich diese starke Identität als Tänzerin, was so ziemlich meine Karriere war, in die ich all meine Konzentration und Disziplin investiert habe, seit ich in meinen 20ern war. Auch, dass ich mich in den Bereich des kollektiven Organisierens begeben habe, auch als Gründungsmitglied vieler Projekte, ob es nun um einen Kindergarten ging oder darum, diesen Ort hier zu finden.
Merkwürdigerweise dachte ich immer, ich würde als arme Künstlerin enden, was auch einen großen Teil meiner Identität geprägt hat. So war mein Motto: “Nimm es selbst in die Hand und mach was draus.” Warte nicht darauf, dass irgendeine Institution Studios bereitstellen, die am Ende eher heruntergekommen sind, hässlich, und auch nicht genügend Finanzierung haben.
Die aktuelle Situation und ihre Auswirkungen
Sylvie: Wie geht es euch denn gerade, mit allen Herausforderungen vor denen wir hier stehen?
Stephanie: Covid war natürlich eine große Frage für mich, weil ich kaum Zeit habe, Performances und Choreographien durchzuführen. Aber ich habe sehr viel Zeit im Studio verbracht.
Im Moment versuche ich, Raum für andere zu schaffen und mich gleichzeitig an die Lage anzupassen, es dennoch zu ermöglichen hier Gäste zu empfangen und künstlerischen Austausch zu ermöglichen. Wie können wir unsere Ressourcen teilen? Wie können wir der Angst entsagen und Verantwortung übernehmen, damit Menschen sich hier weiterhin versammeln können? Und wen lade ich dann ein? Wer eingeladen wird, ist ebenfalls eine große Frage, die mich sehr beschäftigt. Und für manche Menschen sind wir hier nun mal in Ost-Brandenburg, wo rechte Parteien wieder Aufschwung erleben und du niemanden allein an der Bahnstation warten lassen willst. Wie schaffen wir es also, hier einen sicheren Raum zu schaffen? Auch das ist ein großes Thema für mich.
Sylvie: Und glaubst du, Covid zeigt uns eigentlich nur nochmal deutlich, was sowieso schon lange passiert? Ich meine, hast du das Gefühl dass da gerade etwas zum Vorschein kommt, was sich schon lange unter der Oberfläche befunden hat oder sagst du eher, jetzt kommt das was du schon im Gefühl hattest?
Stephanie: Ehrlicherweise haben wir letztes Jahr schon eine Entscheidung getroffen, die uns gut vorbereitet hat, und zwar dass wir diesen Sommer “Air Camps” veranstalten: Wir verkaufen keine Workshops, und wir haben kein grosses Programm. Wir wollen einfach dass Menschen kommen um sich zu entspannen, zusammen zu sein, ihren Platz zu finden, und Raum für andere zu halten.
Als Covid dann kam, hatte ich schon die Räumlichkeiten geöffnet, um Menschen einzuladen und vor allem - dass sie hier nicht konsumieren, sondern mitmachen. So kamen wir auch zum Titel “Tipping Utopia”, da wir ohnehin schon in einem Übergang waren. Ponderosa wurde zu groß und wir mussten ein kleines Gewerbe anmelden um die Übernachtungen und Verpflegung zu managen. Vorher war es viel informeller, es funktionierte wie eine Familie, wir halfen uns gegenseitig und viele Menschen kamen einfach her um zu helfen und gemeinsam haben wir diesen Ort geschaffen. Jetzt als Unternehmen muss ich wissen wann es Frühstück gibt, wie viele Leute kommen, da ich den Koch bezahlen muss, und der Bescheid wissen muss. Dabei will ich spontan bleiben, experimentell. Ich will Underground bleiben, nicht anderen Leuten sagen was sie zu tun haben.
Es war also schon ein Kampf für mich. Dafür habe ich Ja zu einigen Dingen gesagt, von denen ich wusste, dass ich es eigentlich gar nicht wollte. Manches war Gesetz, manches war der Wunsch meines Partners sich weiterzuentwickeln, und Leuten hier Arbeit zu geben. Das ist seine Vorstellung davon, zurückzugeben: Menschen zum Herkommen zu bewegen, an diesen seltsamen Ort an der polnischen Grenze, um Kultur zu vermitteln, gerade was die aussterbende Region Ost-Deutschlands betrifft, auch Themen wie Infrastruktur. Ich weiß nicht, wieviele Leute sich tatsächlich mehr Kunst und Kultur wünschen, und vor allem den damit verbundenen internationalen Zulauf der ihr Dorf belagert. Also suchen wir den Dialog.
Ja, also wir waren schon auf eine Weise bereit für das was kam, ich meine wir haben das Unternehmen seit 2016, und mit den “Air Camps” wollten wir einen Ort schaffen, wo Menschen zur Ruhe kommen können. Zur Ruhe kommen ist derzeit sehr polititsch, “Nein” zu sagen zu dieser kapitalistischen Maschinerie und entspannen.
Leben und Wirken im Kollektiv
Sylvie: Ihr wart also schon im Umbruch, hat die Situation auch etwas daran verändert wie ihr zusammenlebt?
Stephanie: Ich habe auch gesagt, dass wir uns regional aufstellen werden. Ich will mich mehr auf die Umgebung vor Ort konzentrieren.
Leute kommen her und denken “Oh mein Gott, wir sind in Utopia, so schön!” Wir essen zusammen, wir schlafen zusammen, wir verbringen Zeit im Garten. Es ist wie Utopia.
Aber jeder, der wirklich Teil des Kollektivs ist und schon einmal 5 Stunden lang über ein bestimmtes Thema diskutieren musste, wird feststellen, dass es vieler Kompromisse und Engagement bedarf, um vernünftig zu kommunizieren und Entscheidungen zu treffen. Also dachte ich mir, wir bleiben regional und hören auf, all diese internationalen Leute einzuladen. Wir bleiben regional und verbinden uns hier.
Als Gesellschaft befinden wir uns auf dem Weg ins Ungewisse, und komischerweise ist dies genau die Situation die ich kenne. Und was ich festgestellt habe, ich dass Menschen immer etwas brauchen, an dem sie Halt finden.
Als alles zusammengebrochen ist, haben wir mitangesehen wie die ganze Wirtschaft kollabierte. Und dann war es einfach so, als ob ein Knopf gedrückt wurde und alle gingen zurück zur Arbeit - obwohl die Gefahr weiterhin besteht.
Und einfach nur dieses ganze System zu beobachten, wie es sich an die Normalität klammert, und weil die Wirtschaft über allem thront, ging es einfach nur ums wirtschaftliche Überleben. Und ich kann wirklich nur von Glück sagen, dass ich über diesen Raum zusammen mit 40 Leutem verfüge und mich niemand fragt “Wo ist die Miete?” Ansonsten könnte ich nichts so umsetzen, wie ich es tue.
Wir haben sehr lang versucht, die reine Funktionalität des Geschäftsmodells von der Idee zu trennen, uns selbst zu versorgen und Künstler zu empfangen, damit unser gemeinnütziges Projekt funktionieren kann. Mittlerweile machen wir alles zusammen. Und passen und ständig an die Gegebenheiten an.
Herausforderungen gemeinsam bewältigen
Sylvie: Frustriert sich denn etwas an der ganzen Situation? Was glaubst du, hindert dich daran, dein eigentliches Potential weiter zu entfalten?
Stephanie: Vielleicht ist es einfach eine kapitalistische Struktur. Es ist so allgegenwärtig. Und ich denke, dass Deutschland wirklich gute Arbeit darin leistet, für mehr soziale Gleichheit und Strukturen zu sorgen und sich um die Menschen zu kümmern. Aber gleichzeitig existiert auch dieser große internationale Markt, der die komplette Stadt aufkauft und junge Startups, die unendlich viel Geld machen. Und dann ist nach einem Jahr alles gelaufen und es wird in den Müll geworfen und verlassen. Das ist mehr als destruktiv.
Das macht es auch schwer herauszufinden, wo die ganzen Mittel eigentlich hingehen und wie sie verteilt werden sollten. Es ist von Person zu Person verschieden und hängt oft von Privilegien ab. Wenn man beispielsweise in einer eher schlechten Nachbarschaft aufwächst, fühlt man sich oft gar nicht, als verdiene man es, etwas zu erreichen.
Diese Anhäufung von Reichtum, die Reichen werden reicher und all diese Entwicklungen, dass diese östlichen Dörfer sich weiter entwickeln sollten. Ich kenne einige Leute vom Dorf, die hergekommen sind und froh sind, hier zu sein. Es fühlt sich an, wie eine andere Zeit und es ist ruhig und man kann nachts die Sterne sehen. Und natürlich macht es sich auch seit der Covid-Krise bemerkbar, dass die Berliner eher raus wollen um die Großstadt hinter sich zu lassen oder auch ältere Mitmenschen in ihren 80ern, die unter unbezahlbaren Mieten leiden und sich noch einmal umorientieren.
Dieser ganze Ort wurde auch durch andere Menschen inspiririert und ins Leben gerufen. Es geht nicht nur um mich, das alles kann nur exisitieren, weil all diese Menschen daran mitgewirkt haben. Wir haben Bäume gepflanzt, Müll eingesammelt und versucht, uns den freundlich gesinnten Einheimischen anzunähern. Wir leben nicht alleine und die Menschen hier haben unglaubliche Arbeit vollbracht.
Vieles unserer Philosophie baut auf meinen Erfahrungen mit Improvisation auf - vor allem mit diesem Gefühl der Unsicherheit umzugehen. Wie viel Kontrolle kann ich wirklich aufgeben, bevor die Zweifel einsetzen: Kann ich diesen Leuten wirklich vertrauen? Machen sie nicht alles kaputt? Wer zahlt dafür wenn etwas schiefgeht. Zu lernen damit umzugehen, ist ein langer Prozess aber es zahlt sich aus - ich sehe dies nicht nur daran dass wir einen Ort wie Ponderosa aufbauen konnten, aber auch wie viele Menschen hier Platz zum Experimentieren gefunden haben, für den oft im hektischen Alltagsleben vor Covid selten wirklich Zeit war, und daraus wunderbare Kreationen entstanden.
Sylvie: Stephanie, vielen Dank für Deine Zeit.